Der dritte Sessionstag - 14. Juni 2023: "Ist dieser Kanton reformunfähig?"
Der Sessionstag beginnt – ganz im Gedenken zum Frauenstreiktag – mit einem Frauenzmorge in der «Denkbar», organisiert von der Frauenzentrale St. Gallen. Dies ist eine wunderbare Gelegenheit, sich über die Fraktionen hinweg auszutauschen. Vor Beginn, um 08.30 Uhr, verteilten die Frauen der Grünen Partei pinkfarbige Schoggiherzli. Eine sympathische Geste, um auf den besonderen Tag für die Frauen aufmerksam zu machen.
Machtpolitik vom Feinsten
Der Kanton St. Gallen verliert immer mehr den Anschluss. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Arbeitsweise dieses Parlaments. Während andere Kantonsparlamente einen viel kürzeren Sitzungs-Rhythmus pflegen – auch um dem Anspruch der Aktualität gerecht zu werden – tagt der St. Galler Kantonsrat nur viermal pro Jahr, während jeweils zweieinhalb Tagen. Von einer zeitnahen Behandlung der Vorstösse ist man weit entfernt, die Vorlagen stauen sich mehr und mehr. Die personelle Zusammensetzung der Kommissionen bildet nicht die Kräfteverhältnisse im Parlament ab. Themen wie die Reduktion der Fraktionsmindestgrösse, die Kommissionsgrösse, die Zeichnungsberechtigung von Vorstössen von fraktionslosen Mitgliedern oder die Bildung von Fachkommissionen anstelle von adhoc-Kommissionen bleiben weiterhin ausgeklammert. Kleinere Parteien sind benachteiligt; Protokolle bleiben unter Verschluss. Die Mehrheit aus FDP, Die Mitte und SVP verweigern sich der Diskussion; Anträge wurden ohne Debatte abgeschmettert. Damit werden dringend notwendige Reformen verunmöglicht und der ineffiziente Ratsbetrieb wird zementiert. Es fallen Voten wie «wir diskutieren nicht, wir entscheiden!». Machtpolitik vom Feinsten. Das Parlament bleibt damit bis auf weiteres im Schneckentempo unterwegs.
Ein neues Gesetz für die Uni
Die Universität St. Gallen ist ein Leuchtturm in der schweizerischen Bildungslandschaft. Umso mehr sind die Vorkommnisse der letzten Monate rund um die Universität ein grosses Ärgernis. Das neue Universitätsgesetz wurde an mehreren Kommissionstagen während über 24 Stunden intensiv beraten. Trotzdem liegen dem Kantonsrat nicht weniger als 16 individuelle Vorstösse vor, über die jeweils einzeln debattiert und abgestimmt werden muss. Das neue Universitätsgesetz, welches die Verantwortlichkeiten und Kompetenzen klarer regeln soll, kommt deshalb zum richtigen Zeitpunkt aufs Tapet. Die Governance der HSG soll gestärkt werden, indem die Aufgaben der einzelnen Organe, die personelle und finanzielle Führung sowie die Rechtspflege entflochten und ihre Rollen geklärt sind. All dies soll helfen, zukünftig Skandale zu vermeiden oder diese zumindest frühzeitig zu erkennen und zu lösen.
Die Anträge sind vielfältig (Auszug):
- Die vorberatende Kommission beantragte in den allgemeinen Bestimmungen die Streichung der «Chancengerechtigkeit und die Beseitigung von Diskriminierung». Die Ratsmehrheit befand, dass Chancengerechtigkeit und Nichtdiskriminierung zwar selbstverständlich sind, aber die Verankerung im Gesetz für eine Bildungsinstitution essentiell ist. Der Antrag wird angenommen.
- Grosser Diskussionsbedarf besteht beim Wahlkörper für den Universitätsrat und für das Präsidium. Früher wählte der Kantonsrat die Mitglieder des Unirates. SVP und SP – eine spezielle Verbindung – wollten diese Wahlmöglichkeit nicht aus der Hand geben. Sie unterlag mit diesem Ansinnen aber einer geschlossen Die Mitte-EVP-FDP-GLP-Allianz. Es ist richtig, dass jenes Gremium, welches den Auswahlprozess steuert, schlussendlich auch die Wahl vornimmt.
- Der Universitätsrat soll entpolitisiert werden, d.h. die Mitglieder werden aus Vertretungen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammengesetzt. Die Politik soll keine tragende Rolle mehr spielen. Der Antrag der SP sieht nun vor, dass das Expertengremium durch eine Vertretung aus der Politik ergänzt wird. Der Antrag wird abgelehnt.
- Die Ratsmehrheit befürwortet eine Amtszeitbeschränkung von 12 Jahren und eine Altersbeschränkung von 70 Jahren. Trotz flammender Rede der SVP-Vertreterin, dass 70-jährige noch fit sind, lehnt der Rat den SVP-Antrag entsprechend ab.
- Die Entscheidungen in der Universität werden im Senat und im Senatsausschuss gefällt. Bis anhin bestanden beiden Gremien zu 60% aus den Professoren und zu 40% aus Vertretungen aus Fortgeschrittenen Forschenden und Lehrenden, Studierenden, Doktorierenden und des administrativen-wissenschaftlichen Personals. Der Antrag der SP-Grüne-GLP sah die Stärkung dieses sogenannten «Mittelbaus» vor, da dieser den Löwenanteil der Lehre und der Forschung verantworten. Bildungschef Stefan Kölliker appellierte, diese Austarierung der Vertretungen nicht anzugreifen. Aus seiner Sicht ist der sogenannte «Mittelbau», immerhin 1 500 Mitarbeitende, angemessen vertreten. Zu später Stunden wird entschieden, den Antrag auf Stärkung des «Mittelbaus» abzulehnen und ggf. anlässlich der zweiten Lesung im Herbst nochmals darüber zu befinden.
- Die SP beantragte, die Möglichkeit einer Co-Leitung im Rektorat zu schaffen. Dies hätte allenfalls das Feld der möglichen Bewerbungen vergrössern können und hätte dem Wahlkörper die Option offengelassen, bei allfälliger Eignung eine Co-Leitung zu installieren. Die Argumentation der SP-Sprecherin war so feministisch geprägt, dass dies die Mehrheit des Rates abschreckte. Die Ablehnung des Antrages, welcher eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, war die Folge davon.
Der Rat ist langsam müde, die Diskussionen erschöpfen sich.
Die Session geht mit den Schlussabstimmungen zu Ende. Es war die erste Session, die sowohl im Präsidium wie im Vizepräsidium von zwei Frauen geleitet wurde. Ein schönes Symbol am Tag des Frauenstreiks.