von Adrian Zeller, Journalist:
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte das Wiler Kulturleben zu einem eigentlichen Höhenflug an. Bei den Aufführungen der Theatergesellschaft in der Tonhalle strömte jeweils so viel Publikum herbei, dass viele Personen wegen Platzmangel abgewiesen werden mussten. Die Presse war bei der Berichterstattung über die Bühnenproduktionen des Lobes voll.
Grund für die Erfolgsstory war eine sich ausbreitende Musik- und Theaterbegeisterung in der städtischen Bevölkerung, schreiben Verena Rothenbühler und Oliver Schneider in der 2020 erschienen Wiler Stadtchronik. Auslöser für diese Phase war der aus Augsburg stammende Ernst Kempter, der ab 1870 als Leiter sämtlicher musikalischen Vereine in der Äbtestadt wirkte. Unter seiner Leitung stieg das musikalische Niveau in Wil.
Kein Stimmrecht für Sängerinnen
Wie die Historikerin Dr. Magdalen Bless-Grabher schreibt, entstand in dieser Situation die Idee der Aufführung der komischen Oper «Zar und Zimmermann» von Albert Lortzing im Hof zu Wil. Mitwirkende sollten der Männerchor Concordia sowie das Sinfonische Orchester sein, das damals noch Cäcilienmusikgesellschaft hiess.
Die Produktion fand Gefallen. Der Erfolg beflügelte zur Aufführungen weiterer musikalischer Schauspiele. Beim Ritterschauspiel «Preciosa» wirkte erstmals der Chor zu St. Nikolaus mit. Nach längeren kontroversen Diskussionen wurde beschlossen, den St. Nikolaus-Chor in die Theatergesellschaft aufzunehmen, dem heutigen Musiktheater. Wie Bless-Grabher weiter schreibt, stellte der Männerchor Concordia schriftlich das Begehren, das vorgesehene Mitspracherecht der Frauen im Statutenentwurf zu streichen. Es kursiert der Vorschlag, den Männern des Pfarrcäcilienchors ein doppeltes Stimmrecht einzuräumen und die Frauen von der Mitbestimmung auszuschliessen. Schliesslich setzt sich an der kontrovers geführten Generalversammlung im Jahr 1884 das Stimmrecht der Frauen durch.
Knaben spielten Frauen
Rund hundert Jahre früher, 1793, fanden Frauen im Wiler Kulturleben erstmals Erwähnung. Es wurde ein Stück des Humanisten und Staatsmannes Thomas Morus aufgeführt. «Zu den «Acteurs», wie sie vornehm genannt wurden, zählten laut zeitgenössischen Quellen nicht nur «junge Herren, sondern auch «Frauenzimmer», schreibt Bless-Grabher. Wie sie betont, wurden damals in Wil konkret auch weibliche Mitwirkende in Theaterstücken erwähnt. Zuvor wurden auch die weiblichen Rollen von Knaben gespielt.
Seit 1493 sind Wil Theateraufführungen schriftlich belegt. Es wurden etwa das Leben des Heiligen Georg, das Gleichnis des verlorenen Sohns, die Passionsgeschichte und weitere biblische Themen aufgeführt. Dabei wurde das mittelalterliche Wiler Theaterleben von der Lateinschule geprägt, die in enger Verbindung mit der Kirche stand. Die dort unterrichtenden Geistlichen studierten mit ihren männlichen Schülern Stücke ein, die in der Kirche oder im Pfarrhof gespielt wurden. Die Aufführungen waren oft musikalisch begleitet.
Im 18. Jahrhundert lockerte sich laut Bless-Grabher allmählich die Wiler Theaterkultur mit ihrer engen Bindung an die Lateinschule. Es entstanden neue Theaterformationen, darunter auch jene Gruppe, die erstmals auch ausdrücklich auch Frauen Bühnenrollen zudachten.