Es gibt Tage, da wird die Welt stiller.
Nicht, weil nichts passiert – sondern weil wir anders hinhören. Allerseelen ist so ein Tag. Kein lauter Feiertag, sondern ein Tag der leisen Schritte, der Kerzen und der Namen. Ein Tag, an dem Menschen stehen bleiben – an Gräbern, vor Bildern, in Gedanken.
Manche halten das für überholt. Für ein Relikt aus einer Zeit, in der Religion noch selbstverständlich war. Aber vielleicht braucht gerade unsere schnelle Welt solche Tage dringender denn je. Denn Allerseelen erinnert uns daran, was wir leicht vergessen: dass Erinnern eine Form von Liebe ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, die viel über Zukunft redet, aber wenig über Herkunft. Wir wollen uns optimieren, erneuern, weiterentwickeln – und verlieren dabei leicht die, auf deren Schultern wir stehen: Eltern, Grosseltern, Freunde, Kolleginnen – Menschen, die uns geprägt, begleitet, manchmal auch herausgefordert haben.
Sie sind vielleicht nicht mehr sichtbar, aber sie gehören zu uns.
Ihr Lachen, ihre Art zu reden, ihre Haltung zum Leben – vieles von dem tragen wir unbewusst weiter.
Wenn wir an Allerseelen eine Kerze anzünden, tun wir etwas sehr Menschliches: Wir holen Vergangenes in die Gegenwart zurück. Wir sagen: Du bist nicht vergessen.
Und in diesem Satz steckt mehr Trost als in allen grossen Worten über Ewigkeit. Das Gedenken an die Verstorbenen ist keine Flucht in die Vergangenheit. Es ist ein leiser Protest gegen das Wegwerfen – von Dingen, von Beziehungen, von Geschichten. Denn wer erinnert, widersetzt sich dem Vergessen. Und wer die Namen der Toten bewahrt, schützt auch etwas vom eigenen Menschsein.
In der Bibel heisst es: „Ich habe dich beim Namen gerufen, du bist mein.“
Ein Satz, der gläubige Menschen tröstet – aber auch für alle anderen etwas Poetisches hat: Er sagt, dass jeder Name zählt. Dass kein Leben einfach verschwindet, als wäre es nie gewesen. Vielleicht ist das der tiefste Sinn dieses Tages: Er stellt sich gegen die Gleichgültigkeit. Er lädt uns ein, still zu werden – und dankbar.
Allerseelen ist kein Tag der Schwermut. Es ist ein Tag der Verbundenheit. Denn wer einen Namen ausspricht, ruft damit auch etwas Lebendiges wach: Erinnerungen, Zuneigung, manchmal sogar Versöhnung.
Vielleicht sollten wir uns das öfter gönnen: Nicht nur am Friedhof, sondern im Alltag. Einmal kurz innehalten und an die denken, die unser Leben mitgeschrieben haben. Denn die beste Art, ihre Erinnerung zu bewahren, ist, das eigene Leben bewusster zu leben – offener, liebevoller, achtsamer.
So wird Allerseelen zu einem stillen Appell: Vergiss die Toten nicht.
Und vergiss nicht, dass du lebst – als Teil einer langen Kette von Menschen, deren Geschichten weiterklingen.
Erinnern ist kein Rückblick. Es ist eine Form von Gegenwart.
"Wir sind Teil einer langen Kette von Menschen, deren Geschichten weiterklingen"
Bild:
Kath. Seelsorgeeinheit Gossau
Gedanken von Pater Andy Givel zu den bevorstehenden Tagen von Allerheiligen und Allerseelen.